Lady Chatterley

Der Herr mit dem Bowler in der Mitte liest ein gefährliches Buch, die Dame neben ihm weiß nicht so ganz, was sie davon halten soll. Ein berühmt gewordener Prozess im Jahre 1960 hatte gerade ergeben, dass die Penguin Ausgabe von Lady Chatterley’s Lover (der dritten Version, die Lawrence geschrieben hatte) nicht verbotenen werden konnte. Allen Lanes Penguin Verlag verkaufte am ersten Tag des Erscheinens von Lady Chatterley’s Lover 200.000 Exemplare und druckte gleich 300.000 nach. Mehr als drei Millionen werden es in kürzester Zeit sein. Für viele Kulturkritiker war das der Beginn der permissive society. Oder wie Philip Larkin in seinem Gedicht Annus Mirabilis so schön dichtete:

Sexual intercourse began
In nineteen sixty-three
(which was rather late for me) –
Between the end of the „Chatterley“ ban
And the Beatles‘ first LP
.

Der Penguin Band ist gerade wieder Gegenstand einer juristischen Auseinandersetzung gewesen. Nicht das Buch, das bei mir im Regal steht, sondern dieses Exemplar hier, das der Richter Sir Laurence Byrne im Prozess verwendet hatte. Seine Gattin hatte dafür ein hübsches Damasttäschchen genäht, damit das Ganze nicht so zerfleddert aussah. Und sie hatte in dem Buch auch die schmutzigen Stellen angestrichen, damit ihr Gatte die schneller finden konnte. Wahrscheinlich wirkte bei ihr noch nach, was ein englischer Rezensent beim Erscheinen der Erstausgabe 1928 in Frankreich schrieb: the most evil outpouring that has ever besmirched the literature of our country. The sewers of French pornography would be dragged in vain to find a parallel in beastliness . . . Unfortunately for literature as for himself, Mr. Lawrence has a diseased mind.

Das Buch kam jetzt bei Sotheby’s zur Auktion, und man konnte auf der Seite der Regierung lesen: Arts Minister Michael Ellis has ordered a temporary export bar on the copy of Lady Chatterley’s Lover used by judge during obscenity trial
. Der Amerikaner, der bei Sotheby’s bereit war, dafür 56.250 £ auf den Tisch zu legen, ging wegen des Exportverbots leer aus. Jetzt besitzt die Juristische Fakultät der Universität Bristol das Buch. Mit dem Damasttäschchen und den Annotationen von Lady Dorothy.

56.250 £ sind eine Menge Geld für ein Paperback, in dem die schmuddeligen Stellen markiert sind. Also Stellen wie diese, wo der Wildhüter Mellors zu Lady Constance sagt:  Tha’s got such a nice tail on thee,“ he said, in the throaty caressive dialect. „Tha’s got the nicest arse of anybody. It’s the nicest, nicest woman’s arse as is! An‘ ivery bit of it is woman, woman sure as nuts. Tha’rt not one o‘ them button-arsed lasses as should be lads, are ter! Tha’s got a real soft sloping bottom on thee, as a man loves in ‚is guts. It’s a bottom as could hold the world up, it is!“

Ich hatte in dem Post Fernsehen auf den französischen Film ✺Lady Chatterley von 2006 hingewiesen, und arte hat dankenswerterweise anschließend noch eine Dokumentation mit dem Titel ✺Der Prozess der Lady Chatterley: Orgasmus und Klassenkampf in einem englischen Garten gesendet, die noch bis zum nächsten Jahr abrufbar ist. Der Roman von D.H. Lawrence ist immer wieder verfilmt worden, zuerst 1955 von ✺Marc Allégret, die neueste Verfilmung ist aus dem Jahre ✺2017 von der BBC. 1981 gab es eine Version von ✺Just Jaeckin, der ja wie seine seine Hauptdarstellerin Sylvia Kristel eher im Softporno Geschäft zu Hause war, also bei solchen Filmen, die in dem Post Patti d’Arbanville erwähnt werden.

Es gibt auch noch einige Pornofilme, die den Namen Chatterley im Titel haben, wie zum Beispiel Lady Chatterley’s Ghost oder Lady Chatterley Stories, aber das lassen wir lieber weg. Dass der Roman immer wieder auf seine Sexszenen reduziert wird, ist inzwischen zu einer Plattitüde geworden. Dafür braucht man ein nacktes Playboy Häschen wie Jessie Lunderby in Lady Chatterley’s Ghost nun wirklich nicht. Es ging D.H. Lawrence, der ebenso wie seine Romanfigur Sir Clifford Chatterley impotent war, schon um Sex, aber so etwas wie hier hatte er sicher nicht gemeint. Doing dirt on sex, it is the crime of our times, because what we need is tenderness towards the body, towards sex, we need tender-hearted fucking, hat er geschrieben.

Eine interessante Verfilmung des Romans bot die vierteilige ✺BBC Serie von Ken Russell, der auch Lawrences Roman ✺Women in Love verfilmt hatte. Aber Joely Richardson blieb als Lady zu ladylike und zu kalt, wie letztlich auch Marina Hands in dem französischen Film, den arte gerade gesendet hat, der Film ertrank in schönen Bildern. Dass im Roman einmal We fucked a flame into being gesagt wird, scheint angesichts dieser Bilder kaum glaublich. Das Wort fuck kommt in dem Roman übrigens nur 26 Mal vor.

Der Chatterley Prozess im Jahre 1960 war der Beginn vom Ende der englischen Zensur, der mit dem Theatres Act von 1968 war es mit der Macht des Lord Chamberlain als Zensurinstanz vorbei. Allerdings gab es 1964 schon wieder einen Prozess um einen englischen Roman, diesmal war John Clelands Roman Fanny Hill aus dem Jahre 1748 dran.

Vielleicht sollte der Obszönitätsprozeß auch nur von einer wirklichen Obszönität ablenken, damit meine ich nicht, dass Boris Johnson in dem Jahr geboren wurde. Sondern die Liebesaffaire, die diese junge Dame, die in dem Absatz da oben neben der Kopie eines Arne Jacobsen Stuhls sitzt, mit dem Verteidigungsminister hat. Das ist natürlich Christine Keeler, die hier schon einen ausführlichen Post hat. Und den Film ✺Scandal aus dem Jahre 1989, wo Christine Keeler von Joanne Whalley gespielt wird, biete ich heute auch noch an.

Ich bleibe mal im Jahr 1964, da erschien in dem amerikanischen Nudistenmagazin Nude Living dieses Photo als Illustration zu einem Artikel, der In Defense of the Pleasures of the Body hieß. Kunst? Pornographie? Können wir beim Anblick nackter Frauen an andere Kategorien denken? D.H. Lawrence hasste Pornographie. Er hasste auch James Joyces UlyssesThe last part of [Ulysses] is the dirtiest, most indecent, obscene thing ever written. . . . This Ulysses muck is more disgusting than Casanova. I must show that it can be done without muck. Er hat wohl richtig erkannt, dass in Molly Blooms Monolog mehr Sex steckt, als in seinem ganzen Chatterley Roman. Die junge Dame mit dem schönen Körper hier ist übrigens Marli Renfro, die vier Jahre zuvor als Double für Janet Leigh in Psycho unter der Dusche stand.

“I don’t care!” she said stubbornly to Hilda at bedtime. “I know the penis is the most godly part of a man. . . . I know it is the penis which connects us with the stars and the sea and everything. It is the penis which touches the planets, and makes us feel their special light. I know it. I know it was the penis which really put the evening stars into my inside self. I used to look at the evening star, and think how lovely and wonderful it was. But now it’s in me as well as outside me, and I need hardly look at it. I am it. I don’t care what you say, it was the penis gave it me.”

Das steht nicht in Lady Chatterley’s Lover, das die dritte Version des Roman ist, die Lawrence schrieb. Dies Zitat findet sich in der zweiten Version, die John Thomas and Lady Jane heißt (die auch die Vorlage für den französischen Film von 2006 war). Viele Kritiker halten John Thomas and Lady Jane für das bessere Buch: The Lady C. and her lover of the second version are also less romantic and more believable, with Connie Chatterley less sophisticated and intellectual, and her gamekeeper less a matinee idol in quickly removable corduroy breeches. None of the three versions make a great novel out of Lawrence’s materials, but a reading of the second suggests that one of Lawrence’s great literary mistakes was to expend much of the waning energies of his last years on the third.

Ours is essentially a tragic age, so we refuse to take it tragically. The cataclysm has happened, we are among the ruins, we start to build up new little habitats, to have new little hopes. It is rather hard work: there is now no smooth road into the future: but we go round, or scramble over the obstacles. We’ve got to live, no matter how many skies have fallen. So beginnt der Roman, der auch ein Gesellschaftsroman sein will, aber das Thema ist bei Anthony Powell besser aufgehoben als bei Lawrence. Sir Clifford Chatterley (rather supercilious and contemptuous of anyone not in his own class. He stood his ground, without any attempt at conciliation) kommt schwerverletzt aus dem Krieg zurück, aber vom Schrecken des Krieges dringt nichts in diesen Roman. Gegen Goodbye to All That von Robert Graves sind die Kriegserinnerungen von Sir Clifford ärmlich.

Was bleibt von Lady Chatterley’s Lover übrig, wenn wir den ganzen schülstigen Sex streichen, der bei Lawrence schon zu einer Art Religion geworden ist? Nicht viel, es ist kein guter Roman. Er kann nicht mit den beiden wirklich großen Romanen konkurrieren, die in den zwanziger Jahren auf den Markt kommen: Ulysses und A la recherche du temps perdu. Der Literaturkritiker F.R. Leavis empfahl, statt des Romans Lawrences Essay Pornography and Obscenity zu lesen. Ich mag Thomas Hardy, den Lawrence immer wieder beklaute, ich mag Joseph Conrad, nicht nur, weil er über Lawrence sagte: he had started well, but had gone wrong. Filth. Nothing but obscenities. Auf dem Cover des Penguin Classics Band von Lady Chatterley’s Lover steht der Satz No one ever wrote better about the power struggles of sex and love. Der Satz ist von Doris Lessing, die auch ein sehr lesenswertes Vorwort verfasst hat

Ich mag Hardy und Conrad und viele andere Romanautoren, aber D.H. Lawrence habe ich nie gemocht. Und dennoch kann ich ein Buch von ihm empfehlen. Es heißt Studies in Classic American Literature (der Link führt zum Volltext), es kommen keine Wildhüter und keine nackten sexuell frustrierten Ladies drin vor, dies sind Essays zur amerikanischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Das Buch ist 1992 unter dem Titel Der Untergang der Pequod: Studien zur klassischen amerikanischen Literatur auch einmal auf Deutsch erschienen. Es gehört mit zum Besten, was über die amerikanische Literatur geschrieben wurde.

Das kleine Sternchen ✺ im Text zeigt an, dass Sie dort einen Film sehen können.

Fernsehen

Das erste, was ich im Fernsehen sah, war die Rückkehr der deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion. Ich saß im Wohnzimmer der Familie Lürssen; da war ich als Kind damals häufiger, weil mein Bruder mit Fidi Lürssen in einer Klasse war. Lürssen hatten eine Werft, und sie hatten den ersten Fernseher bei uns in der Straße. Als ihre Tochter achtzehn wurde, bekam sie ein Mercedes 190 SL Cabrio von ihren Eltern geschenkt. An dem sie keine große Freude hatte, weil von Vorübergehenden immer wieder Worte wie Nuttenauto und Nitribitt fielen. Es ist in den fünfziger Jahren nicht leicht, reich zu sein.

Die Rückkehr der Gefangenen nach Friedland war ein großes nationales Ereignis, das stundenlang übertragen wurde. Mir war das zu langweilig, ich habe mich nach einer halben Stunde verabschiedet. Man konnte das Programm nicht wechseln, es gab nur das eine Programm. Mein Vater zögerte lange mit dem Kauf des Fernsehers, ich glaube, wir waren die letzten in der Straße, die einen hatten.

Wenn man die Nachrichten aus aller Welt sehen wollte, ging man ins Kino, manchmal mehrfach in der Woche. Man wollte ja wissen, wie es mit dem heldenhaften Captain Carlsen und seiner Flying Enterprise weiterging. Wir guckten nicht viel Fernsehen. Eigentlich nur die Tagesschau und am Wochenende die Aktuelle Schaubude mit Werner Baecker, der war immer gut angezogen. Die Sendung kam aus dem gläsernen Studio. Das gläserne Studio war in Wirklichkeit ein Showroom von Opel am Hamburger Dammtor, aus dem an jedem Sonnabend um 14 Uhr die Autos herausgerollt wurden. Fernsehen war damals noch einfacher zu machen als heute. Und natürlich guckten wir immer Kulenkampff, weil der ja aus Bremen kam. Fernsehen gab es damals nur bis elf Uhr abends, dann kam das Testbild.

Den ersten Spielfilm im deutschen Fernsehen habe ich 1957 gesehen, er hieß Der Richter und sein Henker, es war die Verfilmung eines Romans von Friedrich Dürenmatt. Kaum war das Fernsehen da, gab es auch die ersten Krimis. Eine der ersten Krimireihen hieß Stahlnetz, an das Haus an der Stör kann ich mich noch gut erinnern. Dann kamen irgendwann die sogenannten Straßenfeger, Edgar Wallace und das alles, und dann kam der Tatort. Der war früher einmal etwas Besonderes, heute kann man ja jeden Tag einen sehen. Bei den Wiederholungen, aus denen das Fernsehen besteht, tauchen dann immer mal wieder Sendungen aus der Frühzeit des Fernsehens auf, nostalgische Gelegenheiten, um über die Entwicklung des Mediums nachzudenken.

Nach der Schule ging ich zur Bundeswehr, da gab es jahrelang kein Fernsehen. Im Studium auch nicht, ich habe viele Jahre ohne das deutsche Fernsehen gelebt. Im Kino war ich aber immer, wie Sie meinem Themenblog Silverscreen entnehmen können. Habe ich etwas verpasst, weil ich nicht vor der Glotze hockte? Die Fernsehgebühren sind kontinuierlich gestiegen, was sich leider nicht in der Qualität der Sendungen niederschlägt. Erst einmal in den Jahresgehältern der Intendanten. Der Intendant des WDR verdient mehr als Frau Merkel, das ist eine seltsame Sache, ich habe schon in dem Post Manfred Sexauer Böses über die Intendanten gesagt. Und wahrscheinlich noch irgendwo anders.

Ich bin fernsehmäßig nicht auf der Höhe der Zeit, bei mir gibt es kein Netflix und kein streaming, und ich kann meinen Fernseher auch nicht an den Computer oder das IPhone anschließen. Ganz so alt wie das Fernsehgerät auf diesem Photo ist mein Fernseher nicht. Es ist ein großes Röhrengerät von Metz, war mal state of the art, aber das ist lange her. Es ist schon HD, aber nicht Full HD, an UHDTV oder OLED gar nicht zu denken.

Die Qualität der Fernsehgeräte ist immer besser geworden, die Qualität des Programms nicht. Das ist so flach wie ein Flachbildschirm. Fernsehen heute – so schlecht war es noch nie, titelte die FAZ. Das war im Jahre 2001. Grundig bewirbt zur Zeit ein Fernsehgerät als Fenster zur Welt, da ist schon Amazon Fire eingebaut: Bitten Sie Alexa, den Fernseher anzuschalten, die Lautstärke zu verstellen oder die Wiedergabe zu steuern, selbst von der anderen Seite des Raums aus. Wenn Sie keine Alexa zu Hause haben, sondern eine Heidi oder Ingeborg, dann müssen Sie die mal bitten.

Immer mehr vom Fernsehen wird in das Internet verlagert, die öffentlich-rechtlichen Sender haben eine Mediathek. Dort kann man Filme in einem begrenzten Zeitraum sehen. Dominik Grafs Film Zielfahnder mit der sekundenlang nackten Anna Schäfer, den ich in dem Post Nackt erwähnte, können Sie noch ein paar Tage lang sehen. Für das Fernsehen mit dem Computer bin ich bestens gerüstet, mein Bildschirm kann LED, Full HD und all so etwas.

Das Fernsehen hat auch einen Bildungsauftrag, auf jeden Fall die öffentlich-rechtlichen Sender. Und Fernsehen bildet ja wirklich. Sagte auf jeden Fall Groucho Marx: I find television very educating. Every time somebody turns on the set, I go into the other room and read a book. Ein wenig Literatur gibt es auch im Fernsehen, vermittelt von Elke Heidenreich, Jürgen von der Lippe und Thomas Gottschalk. Und diesem Herrn im karierten Anzug. Das ist Denis Scheck (der hier schon einen Post hat), der hat gerade einen neuen Literaturkanon aufgestellt, den sein Verlag so bewirbt: Mit seiner Auswahl der 100 wichtigsten Werke präsentiert Denis Scheck einen zeitgemäßen Kanon, der auf Genre- oder Sprachgrenzen schlicht pfeift. Von Ovid bis Tolkien, von Simone de Beauvoir bis Shakespeare, von W. G. Sebald bis J.K. Rowling: Charmant, wortgewandt und klug erklärt er, was man gelesen haben muss – und warum. Sebald habe ich gelesen, J.K. Rowling nicht. Und Tim und Struppi, das auch auf der Liste ist, auch nicht.

Nicht auf Denis Schecks Liste ist der Roman Fernsehen von Jean-Philippe Toussaint, in dem der Romanheld beschliesst, nie wieder den Fernseher anzuschalten: Kam es früher häufig vor, daß ich abends, wenn ich allein zu Hause blieb, nicht fernsah und einfach etwas anderes machte, zum Beispiel lesen oder Musik hören, um anständig zu bleiben, so hatte das Fernsehen an jenem Abend für mich eine maßlose Bedeutung schlicht deshalb angenommen, weil ich den Entschluß gefaßt hatte, mit Fernsehen aufzuhören, und obwohl es mich einige Überwindung kostete, mußte ich doch einräumen, daß es jetzt alle meine Gedanken in Bann zog. Aber ich tat, als sei nichts. Ich hatte meine Zeitung aufgeschlagen, und mit einem netten kleinen Kissen im Nacken las ich seelenruhig die Fernsehprogramme durch – mir gegenüber der ausgeschaltete Fernseher. Ich verrate nicht, wie das Experiment ausgeht, es gibt hier keinen spoiler alarm.

Ich bekomme meine Programme über das DVB-T2 mit einer kleinen Zimmerantenne, bei Regen und manchen Wetterlagen fallen Programme aus. Aber eins muss ich meinem alten Metz lassen, die Tonqualität ist erstklassig. Hätte ich Kabel oder eine Luxusantenne auf dem Balkon, hätte ich mehr Sender. Aber ist Masse gleich Klasse? Ich nehme im Fernsehen das, was kommt. Heute Abend fange ich mal mit Hogan’s Heroes an, kenne ich zwar schon, ist aber immer noch witzig. Ich gehe danach zu Horst Lichter über, um mich ein bisschen fremdzuschämen und nehme dann den nächsten Tatort oder Polizeiruf 110, was immer im Angebot ist. Und dann noch die wirklichen Klassiker des Fernsehens: Trucker Babes oder Border Patrol Australia. Aber vielleicht gucke ich auch auf arte Lady Chatterley mit der schnuckeligen Französin Marina Hands, die ich letztens in der schrillen kleinen Serie Eine kleine Lüge gesehen habe.

Lilo

Der Busfahrer sagte über das Mikrophon, dass wir hier nicht weiterfahren könnten, hier sei alles abgesperrt, weil Billy Wilder einen Film drehte. Ich hielt das damals für eine fette Lüge, die man Jugendlichen aus der Provinz erzählen konnte, die zum ersten Mal in Berlin waren. Aber es war wahr, Billy Wilder drehte den Film Eins, Zwei, Drei, während in Berlin die Mauer gebaut wurde.

Diese Photos, die Lilo Pulver auf einem Tisch tanzend zeigen, stammen aus dem Film. Der Stern schrieb zu der Szene: Als Fräulein Ingeborg tanzte sie 1961 im Pünktchen-Kleid und mit aufgepepptem Busen in Wilders Film ‚Eins, Zwei, Drei‘ so verführerisch auf dem Tisch, dass buchstäblich die Wände wackelten – und zeigte damit, dass sie das Zeug zur Schweizer Antwort auf Hollywood-Star Marilyn Monroe hatte. Wenn Sie das sehen wollen, müssen Sie hier zur 53. Minute gehen.

Die schöne Schweizerin war die ‚Feel Good‘-Diva, der Star des Wohlfühlkinos, das die Deutschen in den Nachkriegs- und Wirtschaftswunderjahren so sehr mochten. ‚Ich denke oft an Piroschka‘, ‚Das Wirtshaus im Spessart‘ – das sind bleibende Komödienklassiker, hieß es in der Stuttgarter Zeitung, als Lilo Pulver 85 wurde. Heute wird sie neunzig, und dazu wollen wir ganz herzlich gratulieren. Sascha Hehn wird heute 65, aber wen interessiert das? Und Peter Handke hat den Nobelpreis gewonnen, ich weiß nicht weshalb. Wenn es nach mir ginge, hätte Richard Ford den bekommen, aber mich fragt ja keiner.

Ich glaube, ich bin nur zum Theater gegangen, weil ich mir mal so einen richtig schönen Mann angeln wollte, hat Lilo Pulver mal gesagt. Auf der Leinwand bekam sie Paul Hubschmid, O.W. Fischer, Gunnar Möller und Hardy Krüger, im wirklichen Leben den deutschen Schauspieler und Regisseur Helmut Schmid, den sie gerade geheiratet hatte, als sie für Billy Wilder auf dem Tisch tanzte. Sie war einunddreißig Jahre mit ihm verheiratet, aber er ist schon lange tot. Bei den Dreharbeiten zu Der letzte Sommer (1954) hatte sie sich in Hardy Krüger verliebt, aber daraus ist nichts geworden. Ich nehme an, dass Hardy ihr heute gratulieren wird. Er ist wohl der einzige ihrer Filmpartner, der noch lebt. Liselotte Pulvers Autobiographie (zusammen mit Peter Käfferlein und Olaf Köhne) Was vergeht, ist nicht verloren ist gerade bei Hoffmann und Campe erschienen.

Ilona Grübel

Sie war 1966 in Zadeks Fernsehfilm von Tschechows Kirschgarten zu sehen, aber damals habe ich mehr auf Gisela Trowe und Margot Trooger geachtet. Dass sie 1970 in dem Film Die Jungfrauen von Bumshausen zu sehen war, das wusste ich nicht, weil ich den Film nie gesehen habe. Sie können ihn aber sehen, wenn sie den Filmtitel anklicken. Der Film, in dem auch Jochen Busse mitspielt, wurde später unter dem Titel Betthupferl in Oberbayern vertrieben. Es gab von dem Film auch eine englische Version, die Run, Virgin Run hieß.

Dass sie 1985 mit Matt Dillon und Gene Hackman in dem Film Target war, das habe ich nicht vergessen. Vielleicht liegt das daran, dass man Frauen, die im Film nackt in der Badewanne liegen, nicht so leicht vergisst. Also, zum Beispiel Anna Schäfer in Dominik Grafs Zielfahnder, die mich darauf brachte, den Post Nackt zu schreiben. Mein Gedächtnis speichert nicht nur Frauen auf Zelluloid, es sammelt auch Details von Gemälden und Wolkenformationen am Himmel.

Deutsche Schauspielerinnen, die ins internationale Geschäft wollten, mussten sich damals offensichtlich ausziehen. Das ging Ilona Grübel nicht anders als Senta Berger oder Andrea Rau (hier auf dem Photo mit Mel Ferrer). Target war der einzige internationale Film (wenn man Run, Virgin Run von Hans Billian, der sich wenig später auf Hardcore Pornos verlegte, nicht mitzählt). Was bleibt einer Frau, die mit Tschechow angefangen hat und ein Jahr später das Filmband in Gold für die Verfilmung von Strindbergs Totentanz erhielt? Die Antwort lautet natürlich: Krimis.

Ich sah letzten im Fernsehen einen Schnipsel von einer Serie, die SOKO Kitzbühel: Hinter der Fassade hieß. Ich wusste nicht, was in der Folge passiert war, wer wen umgebracht hatte oder so etwas. Alle Serien sind ja irgendwo gleich. Den Tatort von gestern kommentierte ein Zuschauer im Netz mit: Es ist langsam nicht mehr auszuhalten, welche unterirdischen Leistungen im Tatort geboten werden. Es ist frustrierend als Beitragszahler solchen Mist angeboten zu kriegen! Aber am Ende von SOKO Kitzbühel, als ich mich reinzappte, sah ich diese schöne Frau, die im Begriff war, in ein Luxusauto zu steigen. Ich dachte einen Augenblick nach, und da sagte mir mein Bildergedächtnis: das ist Ilona Grübel. Es ist für schöne Frauen schön, wenn sie noch im Alter gut aussehen.

Ich wusste nicht, dass Ilona Grübel in der Schwarzwaldklinik eine Hauptrolle als Ehefrau von Dr. Udo Brinkmann hatte, sonst hätte ich mir das mal angeguckt. Weil ich die Frau irgendwie mag, sie sieht aus, als ob sie Humor hat. Neben dieser Serie war sie in unzähligen Krimis zu sehen. Mehrfach im Tatort zu sehen (einmal bei Kressin), bei Derrick auch, und an ihre Rolle in Schwarz Rot Gold kann ich mich noch erinnern. In ihrer Heimatstadt München durfte sie als promovierte Kriminalrätin die SOKO München leiten, das war doch schon mal ein Aufstieg im trostlosen Krimigeschäft.

Die Frau, die neben bayrisch mehrere Sprachen spricht und ein Studium der Psychologie abgeschlossen hat, hat heute Geburtstag. Dazu gratuliere ich ganz herzlich. Ich würde ihr wünschen, dass sie endlich einmal eine Hauptrolle in einem richtigen Film bekommt und nicht in Rosamunde PilcherInga Lindström, dem Bullen von Tölz oder den Rosenheim-Cops in Nebenrollen auftreten muss. Man kann die Folge Schwarzer Kaffee von Schwarz Rot Gold bei YouTube kaufen, aber ich habe das auf DVD. Gucke ich mir heute an. Wenn ich nicht doch einen Blick in die frivole Komödie Die Jungfrauen von Bumshausen werfe.

Zauberberg

Am Ende des Films dirigiert der Komponist und Dirigent Fred Ballinger (gespielt von Sir Michael Caine) doch die Simple Songs, die die Königin gerne hören möchte. Am Anfang des Films Youth (Ewige Jugend) hatte er das noch abgelehnt, auch ein Adelstitel konnte ihn nicht locken. Zwischen dem Anfang und dem Ende, wenn Michael Caine im Frack der englischen Königin (ganz in weiß) und Prince Philip seinen ✱Simple Song #3 (gesungen von Sumi Jo) vorspielt, liegen zwei Stunden.

Die Story des Films ist so dünn wie die Schweizer Bergluft, befand Wolfgang Höbel bei Spiegel Online. Und Andreas Kilb schrieb in der FAZEin Rentnerfilm also, einer, in dem viel mehr geredet als gehandelt wird, ein Abgesang, in dem die Musik noch spielt, doch es ist die Musik verflossener Tage. Altes Kino für alte Augen. Aber noch böser und noch treffender ist der Satz: Der Film selbst, scheint es, hört auf zu denken, er macht es sich bequem in seinen Bildern, die wie eine Folge von Werbeclips auf der Suche nach dem passenden Produkt sind.

Es wird viel geredet in dem mit vielen Stars besetzten Film, aber inhaltlich gesehen, sagt uns eine Seite von Thomas Manns Zauberberg mehr als der ganze Film. Und an Clawdia Chauchat kommen die ganzen exotischen Schönheiten auch nicht heran. Paolo Sorrentino, der den wunderbaren Film La Grande Bellazza (lesen Sie dazu mehr in Felliniesque) gedreht hat, hat Michael Caine einen schönen Urlaub in einem alpinen Wellness Hotel verschafft. Ein Teil der Dreharbeiten wurde in dem Hotel gemacht, in dem Thomas Mann an seinem Zauberberg geschrieben hatte.

Heimat und Ordnung lagen nicht nur weit zurück, sie lagen hauptsächlich klaftertief unter ihm, und noch immer stieg er darüber hinaus. Schwebend zwischen ihnen und dem Unbekannten fragte er sich, wie es ihm dort oben ergehen werde. Vielleicht war es unklug und unzuträglich, daß er, geboren und gewohnt, nur ein paar Meter über dem Meeresspiegel zu atmen, sich plötzlich in diese extremen Gegenden befördern ließ, ohne wenigstens einige Tage an einem Platz von mittlerer Lage verweilt zu haben? Er wünschte, am Ziel zu sein, denn einmal oben, dachte er, würde man leben wie überall und nicht so wie jetzt im Klimmen daran erinnert sein, in welchen unangemessenen Sphären man sich befand. Er sah hinaus: der Zug wand sich gebogen auf schmalem Paß; man sah die vorderen Wagen, sah die Maschine, die in ihrer Mühe braune, grüne und schwarze Rauchmassen ausstieß, die verflatterten. 

Wasser rauschten in der Tiefe zur Rechten; links strebten dunkle Fichten zwischen Felsblöcken gegen einen steingrauen Himmel empor. Stockfinstere Tunnel kamen, und wenn es wieder Tag wurde, taten weitläufige Abgründe mit Ortschaften in der Tiefe sich auf. Sie schlossen sich, neue Engpässe folgten, mit Schneeresten in ihren Schründen und Spalten. Es gab Aufenthalte an armseligen Bahnhofshäuschen, Kopfstationen, die der Zug in entgegengesetzter Richtung verließ, was verwirrend wirkte, da man nicht mehr wußte, wie man fuhr und sich der Himmelsgegenden nicht länger entsann. Großartige Fernblicke in die heilig-phantasmagorisch sich türmende Gipfelwelt des Hochgebirges, in das man hinan- und hineinstrebte, eröffneten sich und gingen dem ehrfürchtigen Auge durch Pfadbiegungen wieder verloren. Hans Castorp bedachte, daß er die Zone der Laubbäume unter sich gelassen habe, auch die der Singvögel wohl, wenn ihm recht war, und dieser Gedanke des Aufhörens und der Verarmung bewirkte, daß er, angewandelt von einem leichten Schwindel und Übelbefinden, für zwei Sekunden die Augen mit der Hand bedeckte. Das ging vorüber. Er sah, daß der Aufstieg ein Ende genommen hatte, die Paßhöhe überwunden war. Auf ebener Talsohle rollte der Zug nun bequemer dahin.

Das bisschen Thomas Mann musste mal eben sein, weil der Post sonst zu inhaltsleer wird. Der Schauspieler Michael Caine, der Thomas Mann wahrscheinlich nie gelesen hat, hat England in den siebziger Jahren verlassen, weil ihm die Steuern zu hoch waren. Dann kam Mrs Thatcher und senkte die Steuern: Maggie Thatcher came in and put the taxes back down and in the end, you know, you don’t mind paying tax. What am I going to do? Not pay tax and drive around in a Rolls Royce, with cripples begging on the street like you see in some countries? I decided not to become a tax exile, so I stayed in Britain, but they kept putting the tax up… Das ist natürlich eine schlimme Sache für Multimillionäre. Caine, der vor Jahren in einen Steuerskandal verwickelt war, lebte dann in Miami.

Das Haus in Miami hat er vor Jahren mit Gewinn verkauft, das große Landhaus in Surrey auch. Aber das Penthouse am Chelsea Harbour besitzt er noch. Und irgendwas in der Größe von 75 Millionen Dollar ist ihm auch geblieben. Im Jahre 2000 hat die Königin Sir Maurice Micklewhite zum Ritter geschlagen, er hat inzwischen seinen Namen in Michael Caine geändert. Die nette Julie Walters, die neben ihm in ✱Educating Rita spielt, ist auch geadelt worden.

Michael Caine ist Sozialist, das ist uns vielleicht nicht so klar: Emotionally, I am working class and I am a socialist. I have seen what the lower end of life is like and I want those people to get help. I am a left-wing Tory. Er ist nicht nur Sozialist, er kämpft auch für den Brexit: I’m a Brexiteer… I’d rather be a poor master of my fate than someone I don’t know making me rich by running it. Ein Journalist hat das als one of the most thoughtless sentences ever uttered bezeichnet.

Wenn Sie den Film mit dem Sozialisten Michael Caine sehen wollen, dann können Sie das ✱hier tun (hinter all den ✱ Symbolen laufen heute Filme). Lesen Sie auch: Michael Caine.

Volver, volver

In dem Post über den ↝Whisky konnten Sie Harry Dean Stanton (der in diesem Blog schon einmal in ↝Two-Lane Blacktop vorkommt) anklicken, wie er den ↝Tennessee Whiskey besingt. Der Film Partly Fiction von Sophie Huber, den arte letztens im Anschluss an Paris, Texas sendete, ist leider nicht mehr im Netz (klicken Sie ⇨hier, die Russen haben ihn). Mit dem Film von Wim Wenders wurde Harry Dean Stanton, der jahrzehntelang nur Nebenrollen gespielt hatte, weltberühmt. Berühmt war er eigentlich schon immer, denn was er aus den Nebenrollen machte, das war schon einzigartig. Selbst einen ↝Steven Seagal Film kann er durch seinen Auftritt herausreißen.

Er war nicht nur Schauspieler, er war auch Musiker. Hatte jahrelang eine eigene Band und stand mit berühmten Leuten (hier 1969 mit seinem Freund Kris Kristofferson) auf der Bühne. In Sophie Hubers Film darf er viel singen, und er kann auch mit 85 Jahren noch gut singen. Mit 90 auch noch, wie er in seinem letzten Film ↝Lucky zeigt. Da singt er Volver, volver, einen mexikanischen Schmachtfetzen.

Das Lied wurde von dem mexikanischen Komponisten Fernando Z. Maldonado geschrieben und 1972 zum ersten Mal von ↝Vicente Fernàndez gesungen. Eher geschmettert als gesungen, es gibt viele ↝Cover Versionen, die besser sind. Das spanische volver heißt zurückkommen, und von dem Wunsch, zu der Geliebten zurückzukommen (volver a tus brazos), handelt das Lied. Wie so viele Lieder von den ↝Tageliedern und den albas der Troubadure (die ja auch eine Trennung bedeuten) bis zu Harry Belafontes Come back Liza.


Este amor apasionado, anda todo alborotado
Por volver
Voy camino a la locura y aunque todo me tortura
Sé querer
Nos dejamos hace tiempo pero me llegó el momento de perder
Tú tenías mucha razón, le hago caso al corazón y me muero
Por volver
‚Y volver volver, volver a tus brazos otra vez
Llegaré hasta donde estés
Yo sé perder, yo sé perder, quiero volver, volver
Volver‘
Nos dejamos hace tiempo pero me llegó el momento
De perder
Tú tenías mucha razón, le hago caso al corazón
Y me muero por volver
‚Y volver volver, volver a tus brazos otra vez
Llegaré hasta donde estés
Yo sé perder, yo sé perder, quiero volver, volver

Je stiller es gesungen wird, desto schöner ist es. Ich finde die Art, wie der neunzigjährige Harry Dean Stanton es in seinem letzten Film singt, ganz wunderbar. Klicken Sie ↝hier, Sie werden das nicht bereuen. Harry Dean Stanton hat den Film Lucky nicht gesehen. Er wollte ihn nicht auf seinem Fernseher sehen, er wollte ihn auf der ganz großen Leinwand sehen, aber irgendwie ist es dazu nicht gekommen.

Ach, was war sie schnuckelig damals. Damals heißt: vor einem halben Jahrhundert. Ich habe hier noch ein neueres Video von Michelle Phillips, der letzten Überlebenden von The Mamas & the Papas. Da sitzt sie mit Harry Dean Stanton auf dem Sofa und sie singen ↝Volver, volver. Lassen Sie uns den Frühlingsanfang mit Musik begrüßen, ich habe noch einmal Harry Dean Stanton. Diesmal singt er zusammen mit Quincy Coleman Johnny Cashs ↝I Walk The Line. Ich weiß nicht, was ↝Johnny Cash dazu gesagt hätte, aber ich glaube, es hätte ihm gefallen.

 

Nackt

Ich fange mal auf einer gehobenen Ebene an, um dann in den Niederungen des deutschen Fernsehens zu versinken. Dieses Bild von Ary Scheffer wird gemeinhin als Éros et Thanatos zitiert. Wahrscheinlich, weil der Bildtitel Les ombres de Francesca da Rimini et de Paolo Malatesta apparaissent à Dante et à Virgile etwas lang ist. Sir John Henry von Schroder hat eine Version des Bildes seiner Heimatstadt Hamburg geschenkt, der Louvre und die Wallace Collection in London besitzen eine andere Version. Viele von Scheffers Zeitgenossen waren der Meinung, dass es das beste seiner Bilder war.

Das Geschehen auf Ary Scheffers Gemälde hat immer wieder das Interesse der Künstler gefunden. Dieses Bild, das die CD von Riccardo Zandonais Oper Francesca da Rimini ziert, ist von Gustave Doré. Die Geschichte von Francesca da Rimini ist einfach: eine schöne nackte Frau, Ehebruch und Mord. Wenn man so will: ein Kriminalfall. Dante hat seine Zeitgenossin in den fünften Gesang seiner Göttliche Komöde geschrieben. Da sind wir in der Hölle.

Die Kunsthalle Kiel besitzt auch eine Version des Themas. Allerdings nicht von Ary Scheffer, sondern von dem Maler Rudolf Nonnenkamp. Das Bild, das 1857 die Eröffnungausstellung zierte, hatte man vom Künstler gekauft. Lilli Martius findet das Bild nicht so großartig: Eine allzu große Anerkennung findet infolge der damaligen Überschätzung der Historienmalerei Rudolf Nonnenkamp … Bei allem Lob der Komposition, der Erfassung des darzustellenden Gegenstandes mit „unzweifelhafter Besonnenheit und Mäßigung“, wird aber doch die Frage aufgeworfen, ob die „sichere Klarheit“, die man dem Bilde früher schon zur Last gelegt habe, nicht das ‚Zeichen einer gewissen Mittelmäßigkeit‘ sei, womit die Schwächen eines anspruchsvollen Historienmalers sehr richtig empfunden worden sind.

Und da ich bei einer gewissen Mittelmäßigkeit bin, komme ich nun zum deutschen Fernsehen, wo ich in den letzten Wochen das Thema Eros und Thanatos, um es gehoben auszudrücken, mehrfach beobachten konnte. In dem Kriminalfilm Die dunkle Seite des Mondes hatte die Schauspielerin und Sängerin Anna Schäfer eine kleine Nebenrolle. Sie fiel mir sofort auf, weil ich sie schon in Dominik Grafs Kriminalfilm Zielfahnder: Flucht in die Karpaten gesehen hatte. Da war sie erst nackt, später war sie tot.

Das war in dem Tatort Die Liebe, ein seltsames Spiel nicht anders: erst nackt, dann tot. Zwei der Geliebten eines polyamor lebenden Architekten sind plötzlich tot. Anna Schäfer spielte eine Psychologin (auch polyamor): Meine Rolle ist sehr speziell und hat sehr wenig mit mir und meiner Einstellung zu Liebe und Beziehungen zu tun. Das finde ich toll an meinem Beruf – dass wir auch andere Seiten ausleben können. Das hat mir Spaß gemacht, hat Anna Schäfer in einem Interview gesagt.

In der Süddeutschen schrieb Friedemann Karig dazu: Die Polyamoren sind momentan so etwas wie die Lieblings-Freaks der Medien. Und nun hat sich also der große Tatort an den Trendsport „Polyamorie“ herangetraut. Die ARD hat versucht, mit diesem Mode-Modell, das durch die Verarbeitung in Feuilleton und Kulturradio halb schlüpfrig, halb intellektuell satisfaktionsfähig daherkommt, noch ein paar Sonntagabend-Abenteurer zu locken. Erfolgreich: 8,74 Millionen Menschen haben eingeschaltet. Ein Marktanteil von 26,1 Prozent.

Für Fernsehen und Radio ist jede Form von Pornografie verboten. Im Internet ist Pornografie in Ausnahmefällen gesetzlich erlaubt. Von diesen Ausnahmefällen macht der öffentlich-rechtliche Rundfunk keinen Gebrauch, heißt es in einer Handreichung für die Redaktionen des ZDF. Da sind wir aber beruhigt. Für die ARD wird Ähnliches gelten. Dort sucht man gerade Nudisten für eine Serie namens Praxis mit Meerblick, der Ansturm scheint gewaltig zu sein. Also Pornographie: nein, nackt geht schon.

Nackte Frauen im Tatort regen heute niemanden mehr auf, erst als 2017 ein Kommissar im Bremer Tatort nackt zu sehen war, gab es viel Geschrei: Tatort – Zurück ins Licht: Kritik an nackter Haut, Sex und weniger Tabus. Aber unbekleidete Frauen sind aus den Krimis heute kaum noch wegzudenken (hier Aglaia Szyszkowitz in einer Szene aus Ein starkes Team), wahrscheinlich würde das Ganze sonst zu langweilig, die Handlungen der Krimis ähneln sich ansonsten ja alle. Als ich an der Heeresoffiziersschule war, gab es mal eine Diashow mit hunderten von Bildern von russischen Uniformen und Handfeuerwaffen.

Und weil es zu eintönig war, immer wieder eine Kalaschnikow anzuschauen, mischten die amerikanischen Offiziere, die die Show leiteten, ständig wieder nackte Pin Ups dazwischen. Da schlief niemand ein. Manchmal glaube ich, das Fernsehen arbeitet nach dem gleichen Prinzip. Über eine nackte Ingrid Steeger (hier in einer Edgar Wallace Verfilmung), die sich einen Schlitz ins Kleid macht, hat man sich in Deutschland einmal aufgeregt, die Zeiten sind vorbei. Heute serviert uns RTL eine Sendung, die Naked Attraction heißt, da reden wir mal lieber nicht drüber. Das ist meilenweit entfernt von dem dänischen Film Venus: Nackte Wahrheiten, den arte einmal gesendet hat.

Hier noch mal ein Bild aus einem Tatort, die junge Dame ist noch nicht ganz nackt, aber gleich ganz tot. Die Krimis scheinen der letzte Zufluchtsort für die Nacktheit im TV zu sein. Der Medienkritiker Tilmann T. Gangloff hat bei den Sendeanstalten einen neuen Konservatismus festgestellt. Alles Unsinn, sagt Christine Strobl von der Degeto: Es gibt keinen neuen Fernseh-Puritanismus, das ist Nonsens. Nacktheit findet ganz selbstverständlich statt, wenn sie erzählerisch Sinn macht. Nacktheit des Tabubruchs wegen oder aus voyeuristischen Gründen interessiert uns nicht.

Die Degeto, von der FAZ als heimliche Supermacht des Kitschfilms bezeichnet, hat einmal für Hitler den Vertrieb der Propagandafilme organisiert. Es ist sicher ein wenig gemein, an die Geschichte dieser Firma zu erinnern, aber man sollte das nicht vergessen. Heute sucht die Firma Nackedeis für die Serie Praxis mit Meerblick. Auch für den Ankauf der beliebten Eberhofer Krimis (hier Winterkartoffelknödel) war die Degeto zuständig.

Nach der Meinung des Bundesverbandes Regie ist die allgemeine inhaltliche und ästhetische Verflachung des Programms mit den Interessen der Degeto verbunden, die mittelbar ein Interesse an einer allgemeinen Trivialisierung und damit verbunden Depolitisierung des Programms zuarbeitet. Ich weiß nicht, ob der nackte Po von Lisa Maria Potthoff in Dampfnudelblues erzählerisch Sinn macht, aber auf die voyeuristischen Gründe, von denen Frau Strobl spricht, möchte ich zurückkommen.

Hier stirbt Catherine Flemming im Polizeiruf 110: Vor aller Augen nackt den Filmtod. Die junge Unternehmerin ist zuckerkrank, als sie beim Schwimmen war, hat man ihr ihre Kleidung und ihre Medikamente gestohlen. Jetzt stirbt sie auf dem Boden einer Gaststätte, und die Kamera macht uns zum Voyeur. Erzählerisch macht die Szene Sinn, aber voyeuristisch gesehen ist der Filmtod, der wie ein Sexualakt geschildert wird, an der Grenze.

Wenn die Altenpflegerin Katharina Marie Schubert sich in dem Tatort Anne und der Tod auszieht, dann macht sie das, damit ein von ihr betreuter Rentner eine kleine sexuelle Freude hat. Sie wird dabei photographiert und mit den Photos erpresst, so macht diese Szene für die Handlung durchaus Sinn. Der Stuttgarter Tatort ist außergewöhnlich, es ist eher ein Sozialdrama aus der Altenpflege als ein typischer Tatort. Claudia Tieschky schrieb in der Süddeutschen Zeitung: Es gibt vieles in diesem Tatort, das wehtut… ‚Anne und der Tod‘ aber entwickelt sich dann zu einem subtilen Psycho-Spiel mit den Sympathien des Publikums. Da wird es dann ein anständiger Krimi. 

Als ich Mörderische Dorfgemeinschaft aus der Reihe Polizeiruf 110 sah, fiel mir ein, dass ich Katharina Heyer (Bild), die da nur eine Nebenrolle hatte, schon kannte. Nämlich aus dem Psychothriller Die Frau hinter der Wand, der von der Kritik gelobt und für zahlreiche Preise nominiert wurde. Es ist ein Film, der weit weg von der Realität ist, zu der manche Krimis gefunden haben.

Wenn wir hier die Hauptdarstellerin hier kaum bekleidet in der Nähe eines Duschvorhangs sehen, dann müssen wir natürlich an Psycho denken. Und aus Hitchcocks Filmen Psycho und Rear Window ernährt sich dieser Film. Und ja, die kaum bekleidete Katharina Heyer wird am Ende in der Dusche erstochen. In Notwehr. Weil diese blonde Femme Fatale eine böse Mörderin ist. Über den Film schreibt Oliver Armknecht:

Natürlich ist das übertrieben, ins Groteske verzerrt, so wie der Rest von Die Frau hinter der Wand. Man hat eigentlich nie das Gefühl, es mit realen Personen zu tun zu haben, gerade Florian Panzers Darstellung würde als Karikatur durchgehen. Auch wenn wir hier nie ins Fantastische abgleiten, so wirklich fühlte man sich hier der Realität gegenüber nicht verpflichtet. Nachvollziehbar ist hier nur wenig, man merkt schon deutlich, dass es hier um die Seltsamkeit der Seltsamkeit willen ging. Die Geschichte selbst rückt da eher in den Hintergrund und nicht alles, was während der gut anderthalb Stunden passiert, erfährt zum Ende eine Aufklärung. 

Die Nachbarin der Femme Fatale in Die Frau hinter der Wand heißt Schaffrath, ich glaube, das erlaubt sich der Regisseur einen kleinen Scherz. Denn das ist der Familienname einer Blondine, die als Gina Wild im Pornogeschäft berühmt wurde. Sie ist auch in dem ersten Tatort aus Münster zu sehen, in dem der Kommissar Thiel seine Arbeit aufnimmt.

Ich komme von den nackten Frauen in deutschen Krimis noch einmal auf den Anfang zurück, zurück zur Kunst. Auch das hier sind Francesca da Rimini und Paolo Malatesta, auch wenn man Rodins Plastik gemeinhin als Le Baiser kennt. Diese Plastik findet immer Beachtung, aber im Louvre gehen die meisten Besucher achtlos an dem Bild von Ary Scheffer vorbei, die Kunsthalle Kiel versteckt ihren Nonnenkamp im Magazin. Den ersten Film über die beiden ermordeten Liebenden kann ich ihnen hier auch anbieten, ist garantiert jugendfrei, da sie nicht nackt sind.

Richard Gere

Am Morgen schickte mir ein Freund eine Mail mit einem Photo von dem Mercedes Coupé, das er sich gerade gekauft hatte, einen alten 280 CE. Mit einer H Nummer, Vintage ist in. Am Abend schickte ich ihm eine Mail mit diesem Photo und schrieb: Richard Gere fährt in dem Film, der gerade bei 3sat läuft, Deinen Mercedes. Es ist jetzt viel Richard Gere im Fernsehen zu sehen. Was natürlich daran liegt, dass er heute siebzig geworden ist. Da sind Glückwünsche angebracht.

Der Film mit dem Mercedes hieß Primal Fear. Ich weiß nicht, ob das ein guter Film war, weil ich ihn nicht ganz gesehen habe, aber eins kann man sagen: Gere hat immer schöne Haare, the secret of my success is my hairspray, hat er mal gesagt Und meistens sind auch schöne Frauen in seinen Filmen. Ich schaue mir eigentlich Richard Gere Filme nur wegen der Frauen an.

In Primal Fear waren das Maura Tierney, die wir noch aus Emergency Room kennen, und Frances Mc Dearmond, der Star aus Mississippi Burning. Am Tag davor gab es im Fernsehen Arbitrage mit Susan Sarandon zu sehen. Und natürlich dem Mann mit den schönen Haaren. Und der Französin Laetitia Casta, aber die ist in dem Film leider schon früh tot.

Die Handlung vieler seiner Filme geht auf Sicherheit, auf den Kassenerfolg. Wenn man Julia Roberts für Pretty Woman und Runaway Bride (lesen Sie hier mehr dazu) unter Vertrag hat, kann nichts passieren. Aber nicht immer sind weibliche Hollywoodstars eine Garantie für einen erfolgreichen Film. Nehmen wir Sharon Stone in Intersection, schön und kalt, aber irgendwie leblos. Die rothaarige Kanadierin Lolita Davidovic ist die Rettung für den Film, das steht schon in dem Post Michel Piccoli, denn Intersection ist nichts als ein Re-Make von Sautets Film Les choses de la vie.

Re-Makes sind immer eine Gefahr für einen Schauspieler, und dieser Film hier gehört nicht zu den Höhepunkten von Geres Karriere. Hellmuth Karasek schrieb damals über Breathless: Als überdrehter Autoknacker und Herzensbrecher, der mit quietschenden Reifen zu seinem Tod kurvt und seine letzten Tage mehr durchtänzelt als durchläuft, zieht Gere eine so überdrehte Nummer ab, daß man eigentlich statt der schauspielerischen Leistung nur die Eitelkeit sieht, mit der Gere vorführen will, daß er auch noch Robert de Niro sein kann. Der Film war ein schrottiges Re-Make von Godards Klassiker A Bout de Soufffle, und an Belmondo kommt Gere nicht heran.

Ich weiß nicht, ob Richard Gere wirklich ein guter Schauspieler ist, aber er sieht gut aus und hat immer eine schöne Frisur. Er ist Buddist und setzt sich für die Menschenrechte ein. Seinen Auftritt bei der Berlinale 2016 benutzte er, um Donald Trump zu kritisieren. Und den Rechtspopulisten Matteo Salvini hat er gerade als Baby Trump bezeichnet. Das macht ihn uns sympatisch.

Schwarze Ernte

Wir sind in diesem Film in Dänemark um das Jahr 1900. Weihnachten ist gerade gewesen, aber nicht alles war schön auf dem Gut Havslundegaard. Der Gutsbesitzer Niels Uldahl-Ege wollte seine Geliebte Jomfru Helmer, die seine vier Töchter nur die Hure nannten, zur Weihnachtsfeier mitbringen. Something is rotten in the state of Denmark. Der junge Mann, der Uldahls Töchter durch den Schnee begleitet, ist Isidor Seemann, der junge Amtsrichter ist auch der Rechtsberater der Familie.

Clara, die jüngste Tochter der Uldahls ist unsterblich in ihren Cousin Isidor verliebt. Sie schreibt ihre Liebe in ihr Tagebuch: Grausamer Isidor, weshalb saßest Du die ganze Zeit bei Mutter und plaudertest mit ihr? Merktest Du nicht, daß ich die ganze Zeit vom Fenster aus zu Dir hinüberblickte und immer bleicher wurde, nur vor Sehnsucht, wie eine kleine, kranke Blume, die nach der Sonne verlangt? Ich liebe Dich, Vetter Isidor, ich liebe Dich, daß ich schreien könnte! Weißt Du, was ich des Abends tue, wenn ich ins Bett komme? Ich nehme das Taschentuch, das Du neulich draußen im Entré verlorest und nicht wiederfinden konntest und lege es über mein Gesicht und träume von Dir bis ich einschlafe, es riecht so wundervoll nach Deinem Parfüm, und nun habe ich mir beim Kolonialwarenhändler Ingerslev selbst eine Flasche Violette Russe gekauft. 

Diese Notizen werden im Film immer wieder auftauchen. Am Ende des Films überreicht Frau Uldahl dem Rechtsanwalt das Tagebuch, da ist die junge Clara, die Lieblingstochter von Frau Uldahl tot. Sie hat Selbstmord begangen. Thomas Mann hat für seine Buddenbrooks den Untertitel Verfall einer Familie gewählt, und um den Verfall einer Familie geht es auch in diesem Film. Am Ende bleibt den Uldahls (wie man im nächsten Bild sieht) nur noch einziges Zimmer in ihrem Schloss

Die Möbel sind versteigert, das Haus und das Gut gehören der Bank. Die Uldahls sind finanziell am Ende, sie werden ausziehen müssen. Die Töchter allerdings sind versorgt, jede von ihnen hat von ihrem Onkel Joachim 30.000 Kronen geerbt. Die Familie Uldahl wird eine Wohnung im ersten Stock eines alten Kaufmannshauses beziehen, das am südlichen Stadttor liegt: Frau Line und die Mädchen hatten die Wohnung gemietet, weil ein großer alter Garten zu ihr gehörte. Dann war doch der Übergang nicht ganz so schwer. Und in der Gegend bleiben wollten sie; nun hatte Frau Line ja außerdem auch noch Fräulein Sophies Grabstätte zu versorgen bekommen …

Schuld an dem Verfall der Familie ist er hier, der Gutsbesitzer und Parlamentsabgeordnete Nils Uldahl, der als Minister im Gespräch war. Hier prügelt er sich gerade mit seinem Verwalter. Der ist der zweite Verwalter auf Havslundegaard (für das im Film das Schloss Holsteinborg herhalten musste), der erste Verwalter Andersen hatte Selbstmord begangen. Weil er es nicht mehr ertragen konnte,  dass seine Verlobte die Geliebte des Gutsbesitzers war.

Denn von der Jomfru Helmer, die für ihn in Kopenhagen auf einem Tisch (ohne Höschen) Cancan tanzt, kann Niels Uldahl nicht lassen. Er schenkt ihr Schmuck und Geld, viel Geld. Wenn sie das Gut verlassen muss, dann wird sie ein kleines Vermögen auf der Bank haben. Ihrem ehemaligen Liebhaber bleibt das Schicksal, von der Familie geduldet zu werden: Niels verhielt sich den Handlungen seiner Familie gegenüber ganz passiv, dankbar dafür, daß man ihn nicht völlig verstieß. Still und bescheiden führte er sich auf. Und als er auf seinen demütigen Vorschlag aus opportunen Rücksichten wieder wie in alten Tagen das Schlafzimmer mit seiner Gattin zu teilen, eine verdutzte Absage erhielt, wählte er sich, um so wenig wie möglich zu genieren, ein paar abgelegene Zimmer oben auf dem Boden neben der Mädchenkammer. Und hier lebte er zurückgezogen und still und zeigte sich nur bei den Mahlzeiten.

Hier ist noch einmal der Badepavillon, den wir schon im ersten Absatz sahen. Diesmal von innen, es ist Sommer. Die Tochter des Jägermeisters, die auf Havslundegaard zu Gast ist, zieht sich nach dem Baden um. Und schon will Nils Uldahl sie begrapschen. Sie kann sich wehren und reist ab. Nicht alle können sich gegen den Lüstling wehren, der seine Schwester geschwängert und seine Tochter Friederike vergewaltigt hat. Es ist ein bösartiges Bild vom dänischen Landadel, das der Film zeichnet.

Line Uldahl, die Gattin des Großgrundbesitzers (gespielt von Marika Lagercrantz), hat es längst aufgegeben, auf ihren Mann einzuwirken. Sie ist die still leidende Griseldis der Geschichte. Uldahl hatte sie vor Jahrzehnten einem Schankwirt für zehntausend Kronen abgekauft, sie hatten sich  damals geliebt. Es heißt über sie in dem Roman Fædrene æde Druer (1908) von Gustav Wied, der dem Film zugrundeliegt: Mamsell Ingwersen berichtet, daß Niels Uldahl, als er nun vor gut zwanzig Jahren durch das Dorf Husum drüben westlich im Lande gefahren kam, wo er bei einem gleichgesinnten Großgrundbesitzer drei Tage lang zur Jagd usw. geweilt hatte, im Vorbeirollen ein großes, blondes Weib mit bloßen Armen und vollem Busen im Kruggarten herumgehen und Obst pflücken sah. Sie war köstlich anzusehen, üppig und rund wie die Äpfel, die sie sammelte. Ihr feines regelmäßiges Gesicht und goldblondes Haar leuchtete in der Sonne. Und es lag in ihren Bewegungen, wenn sie langsam die Arme erhob und die Früchte über ihrem Kopf brach, eine eigenartige, ruhige, fast faule Anmut.

Aber als sie ihn mit der Musiklehrerin der Mädchen im Pavillon erwischte, war es aus mit der Liebe. Sie ist eine Frau, die auch im Alter noch von allen bewundert wird: Denn das war das Merkwürdige bei Frau Uldahl, daß sie trotz ihrer blonden Ruhe und ihrer ganzen keuschen, ein wenig lässigen Erscheinung gerade auf die Sinne dieser Männer eine stark erotische Wirkung übte. Sie sahen in ihr wahrscheinlich den Typus jenes reinen, weißen Weibes, vor dem sie einst im ersten furchtsamen Erwachen ihrer Mannheit im Traume gekniet hatten. Und nun sahen sie plötzlich nach einem Leben in Brunst und Enttäuschung den Gegenstand der Träume leibhaftig vor ihren Augen wandeln. Daher wohl zugleich ihr Respekt und ihr Begehren.

Gustav Wied hat die Welt der dänischen Landaristokratie, die er beschreibt, gut gekannt. Der Roman Fædrene æde Druer (den sie hier auf Deutsch lesen können) hat sicherlich auch autobiographische Züge, denn Wied war der Sohn eines Großgrundbesitzers, der den ererbten Besitz peu à peu verlor. Thomas Manns Brieffreund hat Fædrene æde Druer 1910 in der Neuen Rundschau mit den Buddenbrooks verglichen, man könnte den Roman, den ein trostloser darwinistischer Determinismus kennzeichnet (so Gero von Wilpert), auch mit den Romanen von Thomas Hardy vergleichen.

Gustav Wied, der in vielen seiner Werke zur Groteske neigt, hat für uns einen überraschenden Schluss parat: der Saulus wandelt sich zum Paulus. Aus dem Wüstling wird ein frömmelnder Christ, der nichts mehr mit Weibern, Glücksspiel und Suff zu tun haben will: Niels Uldahl hatte das Herz der alten Frau Seemann gewonnen, indem er ihr seine ganze Leidensgeschichte mit seiner Frau und seinen Kindern erzählt hatte, die ihn durch ihre Unfreundlichkeit gegen ihn in ein sündiges Leben hinausgetrieben hatten. Und sodann berichtete er die schöne Geschichte, wie seine liebe verstorbene Mutter seine Umkehr bewirkt, indem sie sich ihm mit Erfahrungen und Gebeten gezeigt hatte. Über den neuen Niels Uldahl-Ege heißt es: Nur Frau Line und ihre Töchter verhielten sich dieser Bewegung gegenüber andauernd verständnislos und abweisend. Wir als Leser glauben ihm auch kein Wort. Es würde auch dem Romantitel widersprechen. Fædrene æde Druer ist ein Bibelzitat, es findet sich bei Jeremia (31, 29-30): In jenen Tagen wird man nicht mehr sagen: Die Väter haben unreife Trauben gegessen, und die Zähne der Söhne sind stumpf geworden; sondern jeder wird wegen seiner Schuld sterben: Jeder Mensch, der unreife Trauben isst, dessen Zähne sollen stumpf werden.

In Dänemark gewannen Sofie Gråbøl, die die Clara spielt, und Pernille Højmark (Jomfru Helmer) die begehrten Bodil Preise für die beste Haupt- und Nebenrolle. Der Film Sort høst (deutscher Verleihtitel Schwarze Ernte) von 1993 war von Dänemark in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film für den Oscar eingereicht, wurde aber erstaunlicherweise nicht berücksichtigt. Dabei ist das ein hervoragender Film, den Anders Refn (einst Regieassistent von Lars von Trier) da mit seinem Kamermann Jan Weincke gedreht hat. Für die Kostüme war Manon Rasmussen verantwortlich. Was Edith Head für Hollywood war, ist Manon Rasmussen für Dänemark. Ein exzellenter Kostümfilm, eine Literaturverfilmung, die sich genau an den Roman hält, das Ganze in 125 Minuten. Mehr kann man sich nicht wünschen. Meine DVD hat mich bei Amazon Marketplace 69 Cent gekostet. Wenn Sie sich beeilen, finden Sie noch eine zu einem ähnlichen Preis.

Film und Mode

Heute gibt es hier einmal eine Fundsache aus der Vergangenheit. Nicht der geschwätzige, ironische Stil von Jay mit diesem kleinen prolligen Touch à la Hans Albers oder Tim Mälzer, wie ich sonst rede und schreibe. Dies ist die eher unterkühlte Sprache eines Lexikonartikels, und das ist es auch.

Mode und Film: Literaturlage

Trotz des gleichnamigen Bildbandes von Regine und Peter W. Engelmeier (Begleitbuch für die Ausstellung im Deutschen Filmmuseum Frankfurt 1990) ist dieses Thema noch nicht hinreichend erforscht. Zwar gibt es originelle Ansätze, die als Modell dienen können, wie Dressed to Kill: James Bond The Suited Hero (1996), aber es fehlen kulturhistorisch, sozialhistorisch oder ikonographisch angelegte Werke in der Art von John Harvey (1995), Farid Chenoune (1993), Anne Hollander (1978) oder der BBC-Serie Through the Looking-Glass (1989). Immerhin gehen diese Kulturgeschichten der Mode zumindest partiell auf das Thema Film ein. Engelmeiers Bildband bietet zwar reichhaltiges Bildmaterial, versagt aber sowohl kostümhistorisch als auch in der Interpretation der vestimentären Zeichen. Während in der Kunstgeschichte in Katalogwerken zum 18. Jahrhundert immer stärker auf die Forschungen der Kostümgeschichte (z.B. Eileen Ribero) zurückgegriffen wird, werden solche Ansätze in der Filmanalyse zu selten berücksichtigt. Allerdings finden sich in manchen Bänden der British Film Institute Film Classics doch Kapitel, die auf die Kostüme und die Wirkung der Filmmode auf die Gesellschaft eingehen.

An Würdigungen der mehrfachen Oscar-Preisträgerin Edith Head ist kein Mangel, an Prachtbänden über die Hollywood-Damenmode der 1930er Jahre (Hunt 1993) auch nicht. Den Einfluß des Londoner Herrenschneiders Frederick Scholte auf die Hollywood-Idole der 1930er und 1940er Jahre kann man bei Chenoune nachlesen, aber ein Überbauwerk zum Thema Film und Mode, das den Ansätzen von Dressed to Kill oder Fred Miller Robinson (1993) folgt, bleibt weiterhin ein Desiderat.

Literatur: Dressed to Kill: James Bond The Suited Hero. [ed. Colin Woodhead] Paris/New York: Flammarion 1996. – Bruzzi, Stella, Undressing Cinema. Clothing and Identity in the Movies. London/New York: Routledge 1997. – Chenoune, Farid: A History of Men’s Fashion. Paris/New York: Flammarion 1993. – Cook, Pam: Fashioning the Nation: Costume and Identity in British Cinema. London: The British Film Institute 1996. – Devoucoux, Daniel: Mode im Film: Zur Kulturanthropologie zweier Medien. Bielefeld: Transcript 2007. – Engelmeier, Regine / Engelmeier, Peter W. (eds.): Film und Mode / Mode im Film. München: Prestel 1990 – Harvey, John: Men in Black. Chicago: University of Chicago Press 1995. – Maeder, Edward: Hollywood and history. Costume design in film. Los Angeles, Cal.: Thames and Hudson 1987. – Robinson, Fred Miller: The Man in the Bowler Hat: His History and Iconography. Chapel Hill/London: University of North Carolina Press 1993. – Hollander, Anne: Seeing Through Clothes. New York: Viking 1978. – Wilson, Elizabeth / Taylor, Lou: Through the Looking-Glass: A History of Dress from 1860 to the Present Day. London: BBC Books 1989. – Hunt, Marsha: The Way We Wore: Styles of the 1930s and ’40s and Our World Since Then. Fallbrook: Fallbrook Publishing 1993.

Der obige Text (ohne die Bilder) ist ein Artikel aus einem Filmlexikon im Internet, ein konziser Forschungsbericht (kürzer geht’s nicht) über die Literatur zum Thema Mode und Film. Ich darf das kopieren und hier verwenden, weil ich den Artikel selbst geschrieben habe. Vor vielen Jahren. Ich habe das Internet Filmlexikon vorgestern durch Zufall gefunden, es ist leider nicht so richtig, eher so gut wie gar nicht, von Google erfasst. Und da fiel mir plötzlich ein, dass ich damals einige Lexikonartikel dafür geschrieben hatte. Ich wusste allerdings nicht mehr welche. Ich wusste auch nicht, ob aus den Plänen des Herausgebers wirklich etwas geworden war. Und das Passwort, das mir der Verlag vor einem Jahrzehnt geschickt hatte, hatte ich natürlich längst vergessen.

Sachlich kann das alles so stehen bleiben. An einer Stelle habe ich den Text verändert: ich habe das Buch von Daniel Devoucoux Mode im Film: Zur Kulturanthropologie zweier Medien von 2007 im Literaturverzeichnis erwähnt. Das gab es damals noch nicht. Das Buch ist ganz interessant, aber wie man als Franzose ein Standardwerk wie Farid Chenoune auslassen kann, das werde ich nicht begreifen. Dessen A History of Men’s Fashion bleibt immer noch die beste Kulturgeschichte der Herrenmode. Leider ist das Buch vergriffen und antiquarisch nur noch zu dreistelligen Europreisen zu bekommen (aber vergleichen Sie mal die deutschen Preise und Angebote mit denen von amazon.com oder amazon.co.uk). Und dann habe ich für diesen Blog noch etwas gemacht: ich habe die ganz wichtigen Bücher durch Fettdruck markiert. Also das, was jeder Modeinteressierte zuerst lesen sollte.

Wenn ich mal viel Zeit habe, dann mache ich einen Forschungsbericht über die besten Blogs, die sich kulturgeschichtlich mit der Mode beschäftigen. Es gibt da einige tolle Dinge. Es gibt auch gute Bibliographien, aber auch schlechte. Diese hier sieht mit 2.470 Titeln gut aus, taugt aber nicht viel, da die wesentlichen Titel fehlen. So eine ultimative Modebibliographie wäre nicht schlecht. Wenn ich mal viel Zeit habe.

Oder ich schreibe über Film und Mode. Zum Beispiel über die Trenchcoats in den deutschen Edgar Wallace Filmen. Wenn ich mal viel Zeit habe. Die farbige Abbildung im Text ist aus Joseph Loseys ➱Verfilmung von L.P. Hartleys Roman The Go-Between, der junge Erzähler zeigt hier ganz stolz sein neues Norfolk Jackett. Wenn Mode in einem Roman eine grosse Rolle spielt (und das tut sie in vielen Romanen), dann sollte eine Literaturverfilmung das auch berücksichtigen.

Joseph Losey hat (ähnlich wie Visconti) darauf in seinen Filmen immer großen Wert gelegt. Der Regisseur hatte seine Darsteller ihre Kostüme den ganzen Tag tragen lassen, damit sie aussahen wie wirklich getragene Kleidung: I think we had to make it appear as if the characters aren’t wearing ‚costumes‘ but the clothes of the day, which is today for the time you are watching the film… Most of the costumes were genuine; we made very few others. And we all lived in the house. They wore the clothes all the time and they ate as well as acted in their costumes… We got everything right. That’s how it has to be, for once you’ve got the exact house, accessoires, costumes, something then springs to life. So sollte es sein. Und dass die ➱Fräcke um 1900 noch keine Brusttasche haben, auch das hat man berücksichtigt.